Das neue Programm der „Distel“ überzeugt

Der Tagesspiegel, 2.05.17
Gerd Appenzeller

Freie Republik Dorotheanien

„Zwei Zimmer, Küche: Staat“ – das neue Programm der „Distel“ überzeugt

 

Gutes Kabarett hat immer einen Hauch von Umsturz. Deshalb hassen Diktatoren
das politische Kabarett oder versuchen es zu domestizieren. Als die SED 1953
das Murren in der Bevölkerung nicht mehr überhören konnte, verordnete sie
die Gründung der Distel. Der Auftrag: Verbreitung des sozialistischen Humors,
Detailkritik erlaubt, Rütteln am System verboten. Gerieten die Aufsicht führen-
den Genossen in Gewissensnöte über die aufmüpfigen Schauspieler, kippten sie
schon mal das ganze Programm bei der Generalprobe. So etwas sprach sich natür-
lich herum in der Hauptstadt der DDR und schweißte ein zur permanenten Reni-
tenz neigendes Darstellerteam genauso zusammen wie die Besucher.
So viel Vorrede ist notwendig, um die Distel von heute zu verstehen. Da ist näm-
lich auf der Bühne in der Friedrichstraße 101 ein doppeltes Wunder geschehen.
Fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat sich das Ensemble immer noch nicht
von der Demokratie in die Lethargie korrumpieren lassen, sondern ist subversiv
und bissig wie einst. Das liegt auch daran, dass einige der wichtigsten Darstel-
ler genauso dabeigeblieben sind wie viele Frauen und Männer im natürlich deutlich
älter gewordenen Publikum. Das ist eine verschworene Gemeinschaft, die ki-
chernd und verschwörerisch Erinnerungen teilt. Der Tourist, den die Reiseregie
in die Distel geschickt hat, erlebt also, wenn er oder sie Sensoren dafür hat, eine
Mehrfachpremiere: Ein neues Programm, in dem Politik im politischen
Raum gemacht und gespielt wird, und in dem das Publikum, bewusst oder unbe-
wusst, selber Teil der Inszenierung ist.

Der Plot des neuen Programms ist genauso durchgeknallt wie einladend zu je-
der Menge Wortwitz: Bald-Rentnerin Margie lebt mit ihrem nichtsnutzigen
44-jährigen Sohn in der Berliner Dorotheenstraße unter prekären Verhältnis-
sen und hält sich finanziell nur dank eines Untermieters über Wasser, der dazu
noch ein Hochstapler ist. Als Margie ihren Rentenbescheid bekommt, ist klar, dass
aus diesem Leben nichts mehr wird, wenn sich nicht grundlegend etwas ändert. Also
beschließt das Trio die Gründung eines eigenen Staates. Die „Freie Republik Doro-
theanien“ wird für Steuerbetrüger genauso interessant wie für Kriminelle, die
einen Diplomatenpass brauchen, und am Schluss mischt sich auch noch Angela Mer-
kel in die Geschicke Dorotheaniens ein.

Deren Kanzlerin Margie findet genauso wie ihr Sohn als Verteidigungs- und der
Untermieter als Außenminister zunehmend Spaß an der Geschichte.
Ganz zum Ende wird der ohnedies turbulente Szenenwechsel so chaotisch, dass
man kurz meint, die Regie probiere bei der Premiere noch mehrere Schlusssze-
nen aus. Aber durch die zwei Stunden reißen Dagmar Jaeger als Kanzlerin, Michael
Nitzel als Außenminister und Rüdiger Rudolph als missratener Sohn und genuss-
freudiger Verteidigungsminister den Saal mit. Nitzel, seit 1983 im Distel-Team, und
Jaeger, seit 1989 dabei, sind einfach brillant, er eine umwerfende, sarkastische
Rampensau, sie bei aller Komik eine großartige Diseuse. Ohne die Musiker,
Matthias Felix Lauschus und Fred Symann, wäre das Geschehen nicht das komödianti-
sche Gesamtkunstwerk, das dem Besucher nebenbei drei grundlegende Gestal-
tungsprinzipien der Politik vermittelt:

  1. Da müssen wir noch mal ran,
  2. Das hat mein Vorgänger versaut,
  3. Das wird aber nicht billig.

Mein Ratschlag: Unbedingt hingehen.



 

Wichtige Informationen:

Die Vorstellung "Breathless"
am 12.11.2023 ist abgesagt!
Der Ersatztermin findet am
Samstag, 10.02.2024
um 19:30 Uhr
im emma-Theater statt.

Leider ist auch die Vorstellung am
10.02.2024 ausgefallen.
ERSATZ ist nun das Musical
"TOOTSIE" am
Donnerstag, 30.05.2024
um 19:30 Uhr
im Theater am Domhof

Die Tanz-Vorstellung „Breathless
am 16.11.2023 ist abgesagt!
Die Ersatzvorstellung
DWA-Zwei“ findet am
Samstag, 13.04.2024
um 19:30 Uhr
im Theater am Dohmof statt.